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Zwischen Genie und Systemabsturz: Hochbegabte in Gefängnissen, Fixerräumen und auf der Straße

  • Dr. Birgit Wegerich-Bauer
  • 6. Juni
  • 5 Min. Lesezeit


Wir sprechen viel über Hochbegabtenerkennung und Förderprogramme, über Talent, Potenzial und besondere Leistungen. Aber fast niemand spricht über jene Orte, an denen wir wahrscheinlich viele hochsensible und hochbegabte Menschen treffen könnten – wenn wir den Mut hätten, hinzusehen. Über Hochbegabte, die nicht glänzen, sondern kämpfen. Die nicht auffallen, weil sie leisten, sondern weil sie verschwinden: in Gefängnissen, in Fixerräumen, auf der Straße.


Was passiert, wenn ein außergewöhnlicher Geist auf eine Welt trifft, die ihn nicht erkennt – oder nicht aushält? Was, wenn Begabung nicht gefördert, sondern überfordert, verletzt, übersehen wird? Vielleicht ist es Zeit, Hochbegabung auch dort zu suchen, wo sie niemand vermutet. Und uns zu fragen, was das über uns als Gesellschaft sagt.


Hochbegabung – kein Garant für ein gelungenes Leben

Hochbegabung bedeutet nicht automatisch gesellschaftlichen Erfolg. Viele Hochbegabte scheitern nicht an mangelnder Intelligenz, sondern an der mangelnden Passung zwischen ihnen und dem System. Früh missverstanden, sozial ausgegrenzt oder psychisch belastet, finden sie oft keinen Platz im starren Raster von Schule, Ausbildung oder Arbeitswelt.


Insbesondere dann, wenn Hochbegabung mit anderen Faktoren zusammenkommt – etwa sozialen Schwierigkeiten, psychischen Erkrankungen, ADHS oder einem instabilen familiären Umfeld – kann der Weg schnell in destruktive Bahnen führen.


Gefängnisse: Ein wenig beachteter "Rückzugsort" für Systemverweigerer

Einige der Menschen hinter Gittern sind weit intelligenter, reflektierter oder kreativer, als ihr Lebenslauf vermuten lässt. Nicht wenige von ihnen haben früh gelernt, Systeme zu durchschauen – und gleichzeitig erfahren, dass sie in diesen Systemen keinen Platz finden. Für manche bietet das Gefängnis eine paradoxe Form von Halt: klare Strukturen, geregelter Alltag, sogar erstmalige Wertschätzung durch Mitgefangene oder Sozialarbeiter:innen.


Oft ist es gerade ihre Hochbegabung, die sie dorthin gebracht hat. Denn was viele unterschätzen: Hochbegabung kann einen unstillbaren Drang nach Reiz, Tiefe und Grenzerfahrung mit sich bringen. Der Reiz des Verbotenen, der Wunsch, sich zu spüren, das Bedürfnis nach geistiger Herausforderung – all das kann sich in unbewussten und bewussten Regelbrüchen, illegalen Handlungen oder riskantem Verhalten äußern. Nicht aus Gedankenlosigkeit oder krimineller Energie, sondern als eine Art existenzieller Rebellion gegen ein als hohl empfundenes System.


Der Kick, das Extreme, die bewusste Brechung mit der Norm wird für manche Hochbegabte zur einzigen Möglichkeit, Intensität zu erleben – oder sich selbst überhaupt zu fühlen. Dabei wird Kriminalität fast zur Logik: ein intellektuelles Spiel, ein Akt innerer Konsequenz in einer Welt, die sie weder fordert noch erreicht.


Gerade hochbegabte Menschen, die durch Mangel an Resonanz, Förderung und Verständnis in destruktive Verhaltensweisen abgedriftet sind, finden im Gefängnis manchmal eine seltsame Art von Struktur oder sogar Ruhe – doch der Preis dafür ist hoch.


Fixerräume: Orte für Hochbegabte auf der Flucht vor sich selbst

In Fixerräumen – offiziellen Drogenkonsumräumen, in denen Abhängige unter Aufsicht konsumieren – begegnet man immer wieder Menschen mit hoher kognitiver Begabung. Sie sind nicht gescheitert, weil sie dumm oder unfähig wären, sondern weil sie in einer Welt aufgewachsen sind, die sie weder erkannt noch verstanden hat.


Viele dieser Hochbegabten berichten von tief empfundener Sinnlosigkeit, extremer Reizoffenheit, chronischer Unterforderung oder innerer Unruhe. Wenn niemand da ist, der diese Komplexität aushalten, spiegeln oder begleiten kann, wird der Rückzug in den Drogenkonsum zur logischen Folge: als Versuch, sich selbst zu betäuben – oder im Gegensatz dazu sich überhaupt zu spüren.


Drogen wie Heroin, Benzodiazepine oder Methadon wirken oft beruhigend auf ein Nervensystem, das dauerhaft überfordert ist. Sie schaffen eine Pause vom Denken, Fühlen, Grübeln. Für manche Hochbegabte ist das verlockender als jedes Coaching oder Therapiegespräch – gerade dann, wenn sie vorher immer wieder auf Unverständnis gestoßen sind.


Intelligenz die auf der Straße liegt: Wenn Hochbegabte obdachlos werden

Auch auf der Straße trifft man sie – Menschen mit blitzschnellem Verstand, klarem analytischen Blick, tiefem Reflexionsvermögen. Sie schlafen unter Brücken, in Notunterkünften oder zwischen Lärm und Dreck – und doch erzählen sie in stillen Momenten von Literatur, Philosophie, Naturwissenschaften oder alten Idealen, die sie nie ganz losgelassen haben.


Obdachlosigkeit und Hochbegabung schließen sich nicht aus – im Gegenteil. Gerade hochbegabte Menschen, die früh scheitern, die aus dem System fallen oder sich ihm (un)bewusst entziehen, sind gefährdet, irgendwann auf der Straße zu landen. Nicht, weil sie unfähig wären – sondern weil sie zu oft anecken, zu wenig Rückhalt haben und zu viel spüren.


Viele berichten von langen Phasen innerer Entfremdung, von der Weigerung, sich anzupassen, von Institutionen, in denen sie nicht ernst genommen wurden. Wer nie gelernt hat, mit seiner Sensibilität und geistigen Komplexität umzugehen – und wer zudem familiäre, psychische oder finanzielle Brüche erlebt – kann in kurzer Zeit alles verlieren.


Was bleibt, ist oft ein Überlebenskampf – geführt mit einem Verstand, der alles analysiert, aber niemanden mehr findet, der zuhört.


Streetworker und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe sollten für diese Realität sensibilisiert werden. Denn wer nur nach Sucht, Armut oder Gewaltgeschichte fragt, übersieht vielleicht das eigentliche Drama: ein Mensch mit großem Potenzial, der nie einen Platz in dieser Welt gefunden hat.


Weder Zahlen noch Studien – aber viele offene Fragen

Auffällig ist: Zur Verbindung von Hochbegabung und Drogenabhängigkeit, Kriminalität oder Obdachlosigkeit gibt es kaum Studien, keine belastbaren Zahlen und noch weniger systematische Forschung. Weder in der Suchttherapie noch in der forensischen Psychologie oder Wohnungslosenhilfe scheint diese Thematik bislang eine Rolle zu spielen.


Das ist fatal. Denn wer suchttherapeutisch oder psychosozial mit Menschen arbeitet, sollte wissen, dass kognitive Hochbegabung eben nicht immer nur Leistungsstärke bedeutet – sondern auch Isolation, emotionale Überforderung, Identitätskonflikte oder Selbstabwertung. All das sind klassische Risikofaktoren für substanzgebundene Sucht oder soziale Verelendung.


Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen, Streetworker und Suchtberater:innen sollten dringend für das Thema sensibilisiert werden. Nicht, um jeden Klienten auf einen IQ-Test zu schicken – sondern um die Möglichkeit überhaupt in Betracht zu ziehen: Dass sich hinter der scheinbar verlorenen Existenz ein hochintelligenter, tief empfindender und empfindsamer Mensch verstecken könnte.


Früher erkennen – bevor Systeme brechen

Umso wichtiger ist es, hochbegabte und hochsensible Kinder schon früh zu erkennen – und ihre Gedanken, ihre Perspektiven und auch ihre Widersprüche ernst zu nehmen. Nicht selten senden diese Kinder von klein auf Signale, dass sie anders denken, intensiver empfinden, mehr verstehen, als ihr Umfeld glaubt.


Wer sie über Jahre hinweg ignoriert, beschämt oder in falsche Normen presst, riskiert nicht nur psychische Krisen – sondern auch das völlige Abrutschen in selbstzerstörerisches Verhalten. Frühzeitige Förderung, ehrliches Zuhören und psychische Begleitung können verhindern, dass aus außergewöhnlicher Begabung ein gefährlicher Abgrund wird.


Fazit: Hochbegabung braucht Ressonanz egal wo

Hinter vielen Lebenswegen, die in Gefängniszellen, Fixerräumen oder unter freiem Himmel enden, steckt keine fehlende Intelligenz – sondern ein Zuviel davon. Ein Zuviel an Denken, Wahrnehmen, Fühlen. An Widerspruch, an innerer Unruhe, an Sehnsucht nach Sinn. Was als besondere Gabe hätte erkannt und gefördert werden können, wird zu einem unsichtbaren Schmerz, der sich nach innen oder außen entlädt.

Viele dieser Menschen wollten nicht zerstören – sie wollten verstanden werden. Aber eine Gesellschaft, die nur Leistungsstärke oder Anpassung belohnt, übersieht jene, die zu komplex, zu intensiv oder zu unbequem sind. Und so werden sie über Jahre hinweg gebrochen: durch Missachtung, Fehldiagnosen, Überforderung, Isolation.


Es ist kein individuelles Scheitern – es ist ein systemisches Versagen.


Wer Hochbegabte nicht früh erkennt, ernst nimmt und begleitet, riskiert, dass ihre Fähigkeiten sich gegen sie selbst richten. Nicht, weil sie schwach sind – sondern weil sie zu lange allein gelassen wurden mit einem Denken, das nie zur Sprache kommen durfte.

 
 
 

1 Comment


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Jun 08

Vielen Dank, liebe Birgit, für diesen wertvollen Beitrag!

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