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Wenn Lehrkräfte mobben

  • Dr. Birgit Wegerich-Bauer
  • 10. Juli
  • 7 Min. Lesezeit

Die stille Gewalt (nicht nur) gegen hochbegabte Kinder – Ein Tabuthema


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„Er passt sich nicht an.“ „Das hat sie niemals selbst geschrieben.“ „Wer sich so hervortut, muss auch Kritik aushalten.“

Diese Sätze stammen nicht von Gleichaltrigen auf dem Pausenhof. Sie fallen im Klassenzimmer – von Lehrkräften. Von Menschen, denen Eltern ihre Kinder anvertrauen - anvertrauen müssen. Von Menschen, die Verantwortung tragen – pädagogisch, menschlich und rechtlich. Und doch wird genau von diesen Menschen nicht selten Gewalt ausgeübt. Keine körperliche. Aber psychische. Strukturelle. Und nachhaltige.


Wenn wir gesellschaftlich über Mobbing in Schulen sprechen, geht es meist um das Verhalten von Kindern und Jugendlichen untereinander – um Hänseleien, Ausgrenzung, Übergriffe. Doch es gibt eine Form von Mobbing, über die kaum gesprochen wird, obwohl sie besonders folgenreich ist: Von Mobbing durch Lehrkräfte.


Dieses Mobbing ist nicht laut. Es ist subtil, unterschwellig – und dennoch tiefgreifend zerstörerisch. Gerade hochbegabte Kinder sind davon besonders betroffen. Anstatt gefördert zu werden, erleben sie Misstrauen, Herabsetzung und schleichende Ausgrenzung. Ihre besonderen Fähigkeiten – schnelles Denken, kritisches Hinterfragen, kreatives Verknüpfen, soziales Feingespür – werden nicht als Ressource gesehen, sondern als Störung. Statt als Kind mit Potenzial werden sie behandelt wie ein Problem, das man disziplinieren muss.


Fachlich wird Mobbing durch Lehrkräfte definiert als systematisch wiederkehrendes abwertendes, demütigendes oder ausgrenzendes Verhalten von Lehrpersonen gegenüber Schüler:innen. Es ist ein Missbrauch pädagogischer Machtverhältnisse.


Dazu zählen unter anderem:

  • Bloßstellungen im Klassenraum

  • Abwertende, sarkastische oder lächerlichmachende Kommentare

  • Unfaire Leistungsbewertungen oder bewusste Nichtbenotung

  • Ausgrenzung aus sozialen oder fachlichen Zusammenhängen

  • Ignorieren, Isolieren oder ständiges Kritisieren

  • Pathologisieren von Verhalten („Du bist zu empfindlich“)

  • Vorenthalten von Informationen oder Nachteilsausgleichen


Diese Mobbingsformen sind nicht immer leicht zu erkennen (vor allem weil meistens nur Kinder zugegen sind und Aussagen von Kindern in der Regel nicht so viel zählen, wie die Aussagen von erwachsenen) – aber ihre Wirkung ist tiefgreifend. Sie zielen - ob absichtlich oder unabsichtlich auf das Selbstbild und die psychische Stabilität der betroffenen Kinder.


Kinder im Zwiespalt – wenn die eigene Wahrnehmung nicht mehr zählt

Für betroffene Kinder ist es besonders schwer, sich gegen dieses Verhalten zu wehren. Die Täter:innen stehen vor der Klasse, beurteilen Leistungen und Verhalten, schreiben die Noten, stellen die Regeln auf. Sie entscheiden, was als „respektvoll“ gilt – und was als Störung. Wenn genau diese Autoritätspersonen beginnen, ein Kind regelmäßig zu übergehen, zu entwerten oder ins Lächerliche zu ziehen, entsteht ein tiefer innerer Konflikt: Ein Zweifel an der eigenen Wahrnehmung und Wirklichkeit.


Viele Kinder versuchen zunächst, das Verhalten zu verstehen. Sie wollen glauben, dass alles seine Richtigkeit hat – und nicht gegen sie gerichtet ist. Gleichzeitig spüren sie: Etwas stimmt nicht. Doch mit wem können sie darüber sprechen? Wer glaubt ihnen?


Oft sind es die Eltern, die als Erste etwas bemerken. Das Kind wirkt stiller, reizbarer, zieht sich zurück oder wird plötzlich auffallend wütend. Wenn es sich schließlich öffnet, kommen die ersten vagen Andeutungen: „Ich glaube, die Lehrerin mag mich nicht.“ – „Der Lehrer sagt immer, ich soll mich nicht so wichtig nehmen.“ Und dann beginnt ganz oft ein verhängnisvoller Kreislauf: Statt hellhörig zu werden, beginnen viele Eltern zunächst und nachvollziehbarer Weise das Erlebte der Kinder zu relativieren. „Das war bestimmt nicht so gemeint.“, „Vielleicht hast du es falsch verstanden.“, „Der Lehrer hatte sicher einen stressigen Tag.“


Was gut gemeint ist, kann das Kind tief treffen. Denn statt Erleichterung zu verspüren hört es, dass seine Wahrnehmung (wieder mal) nicht stimmt, dass sein Empfinden (wieder einmal) nicht angemessen und richtig ist. Das Kind beginnt zu zweifeln – an dem, was gesagt wurde, an seiner eigenen Deutung, letztlich an sich selbst. Vielleicht haben die Erwachsenen ja recht. Vielleicht übertreibt es. Vielleicht ist es tatsächlich schuld. Besonders hochbegabte Kinder erleben in der Schule doppeltes Mobbing: Zuerst durch ihre Mitschüler:innen – und dann durch das Verhalten der Lehrkräfte. In der Klassengemeinschaft gelten sie gerne als Besserwisser:innen oder Sonderlinge. Ihre besondere Denkweise, ihre Lernfreude oder ihr verbaler Ausdruck können sie schnell zu Zielscheiben von Spott und Ausgrenzung machen. Wenden sie sich daraufhin hilfesuchend an die Lehrkraft, werden sie häufig erneut zurückgewiesen – ihr Erleben wird relativiert, bagatellisiert oder als überempfindlich dargestellt. „So schlimm wird’s schon nicht gewesen sein.“, „Du musst dir nicht alles so zu Herzen nehmen.“, „Da steigerst du dich jetzt rein.“,


Damit stehen diese Kinder doppelt allein: Angegriffen von Gleichaltrigen – und im Stich gelassen von denen, die sie eigentlich schützen sollten. Was das Kind bräuchte – nämlich eine klare, schützende Reaktion der Lehrkraft – bleibt aus. Stattdessen erhält es die Botschaft: Dein Gefühl ist nicht glaubwürdig. Dein Schmerz ist übertrieben. Diese doppelte Kränkung trifft besonders tief, weil sie nicht nur sozial isoliert, sondern auch das letzte Vertrauen in die Erwachsenenwelt erschüttert.


Das ist die gefährlichste Wirkung von Mobbing durch Lehrkräfte: Es zerstört nicht nur das Vertrauen in andere – sondern auch das Vertrauen in die eigene innere Stimme. Kinder, die sich in diesem Zustand befinden, stellen keine Fragen mehr. Sie beteiligen sich nicht mehr. Sie passen sich an, ziehen sich zurück oder brechen aus. Und irgendwann glauben sie selbst: Mit mir stimmt etwas nicht!


Die Mauer des Schweigens: Wenn Kollegien sich gegenseitig schützen

Wenn Eltern sich oft nach langem Zögern entschließen, denn sie wissen welche Konsequenzen das für das Kind bedeuten kann, das Verhalten einer Lehrkraft anzusprechen, erleben sie häufig eine mehrfache Eskalation. Sie wissen, was auf dem Spiel steht. Sie kennen das Risiko. Und doch wollen sie ihr Kind schützen.

Doch was folgt, ist oft ernüchternd:

  1. Die Lehrkraft stellt das Kind als schwierig oder überempfindlich dar. Ihre Verantwortung wird abgewehrt und auf das Kind übertragen.

  2. Die Darstellung des Kindes wird relativiert, Beweise verschwinden, Aussagen werden „anders erinnert“.

  3. Das Kollegium hält zusammen. Kritik an einer Lehrkraft wird meist als Angriff auf das ganze Team verstanden.

  4. Die Schulleitung schweigt. Oder wiegelt ab. Oder erklärt das Ganze zur „internen Angelegenheit“.


Was eigentlich Aufarbeitung und Schutz sein sollte, wird zur systemischen Selbstverteidigung. Die Schule schützt sich – nicht das Kind.


Gerade Eltern hochbegabter Kinder erleben dies besonders deutlich. Sie sehen das Leid ihres Kindes – und treffen auf ein System, das sich abschottet. Das sich nicht mit dem Vorwurf auseinandersetzt, sondern mit dem Gewalttäter verbündet.


Und plötzlich sind die Eltern das Problem

Wer es als Eltern wagt, diese Dynamik zu benennen, wird rasch selbst zum Ziel von Pathalogisierung und gezielten verbalen Angriffen. Aus besorgten und fürsorglichen Eltern werden „Problemeltern“. Aus berechtigter Sorge wird „Überidentifikation“. Aus berechtigter Kritik wird „Grenzüberschreitung“.


Die pädagogische Verantwortung der Lehrkraft wird verschoben – auf das häusliche Umfeld. Das Kind wird zum Störfall erklärt. Die Eltern zum Risiko. „Sie tun sich aber vor allem Ihrem Kind keinen Gefallen, wenn Sie das weiterverfolgen.“


Ich erlebe das regelmäßig in meiner Beratung: Eltern, die über Monate respektvoll kommunizieren, dokumentieren, Geduld zeigen – und am Ende erst als "überambitioniert" und dann als „übergriffig“ abgestempelt werden, weil sie sich trauen, für ihr Kind einzusetzen. Weil sie nicht länger zuschauen wollen, wie ihr Kind vorgeführt, bloßgestellt und diskreditiert wird.


Das Schweigen ist Teil des Mobbings

Viele Lehrkräfte bemerken unterschwelliges Mobbing ihrer Kolleg:innen oft nicht oder nicht mehr. Vielfach ist unterschwellige Diskriminierung von Schüler:innen Teil ihres gewohnten Alltags geworden. Doch es muss ganz klar gesagt werden, Lehrkräfte, die wegsehen, wenn Kolleg:innen mobben, machen sich mitschuldig. Schulleitungen, die nicht eingreifen, sind nicht neutral – sie sind Teil des Problems. Ein Schulsystem, das Loyalität über Kinderschutz stellt, hat seinen pädagogischen Auftrag verwirkt.


Mobbing durch Lehrkräfte ist kein Einzelfall. Es ist Realität – und das System hält schützend seine Hand darüber.


Im Interesse der Kinder ist es Zeit das Thema in den Focus zu rücken und genau hinzuschauen. Die Verantwortung liegt nicht nur bei der einzelnen Lehrkraft. Sie liegt im Kollegium. In der Schulleitung. Im System. Und in unserem kollektiven Schweigen.


Hinschauen wo wir gesellschaftlich hinschauen müssen

Hochbegabte Kinder stehen in diesem Text im Fokus – nicht weil sie mehr Schutz verdienen als andere, sondern weil sie durch ihre andere Wahrnehmungs- und Denkweise im System besonders oft anecken, irritieren und ausgelöstes Fehlverhalten sichtbar macht.

Doch das Problem reicht weit über diese Gruppe hinaus. Mobbing durch Lehrkräfte – ob laut oder leise, ob aus Machtmissbrauch, Überforderung oder aus mangelnder Selbstreflexion – betrifft nicht nur einzelne Kinder mit besonderen kognitiven Begabungen. Es betrifft alle, die im System Schule abhängig sind von Autoritäten, die sie nicht hinterfragen dürfen. Es betrifft jedes Kind, das von einer Lehrkraft zum Sündenbock gemacht wird. Es betrifft jede Familie, die um Unterstützung bittet – und stattdessen in Frage gestellt wird.

Das Thema betrifft uns alle!


Denn Schule ist ein Schutzraum. Oder sollte es sein. Wenn dieser Raum zur Bühne pädagogischer Gewalt wird – durch Handlungen oder durch Wegsehen –, dann ist nicht das Kind das Problem. Dann ist das System in der Pflicht!

Es ist Zeit, die Realität beim Namen zu nennen. Es ist Zeit, hinzuschauen. Und es ist höchste Zeit, Verantwortung zu übernehmen – im Klassenzimmer, im Kollegium, in der Leitungsebene, in der Ausbildung und in der Gesellschaft.


Nachträgliche Gedanken:

Viele hochbegabte Erwachsene tragen bis heute Verletzungen in sich, deren Ursprung sie kaum benennen können. Sie hadern mit sich, zweifeln an ihrer Daseinsberechtigung, erleben sich als „zu viel“ – zu intensiv, zu empfindlich, zu anspruchsvoll. Was ihnen oft nicht bewusst ist: Der Ursprung dieses inneren Konflikts liegt nicht in ihrer Persönlichkeit, sondern in frühen, prägenden Erfahrungen mit dem Schulsystem.


Immer wieder berichten hochbegabte Erwachsene – oft erst Jahrzehnte später – von subtiler Abwertung, Bloßstellung oder Missachtung durch Lehrkräfte. Von Sätzen, die sie bis heute begleiten: „Du denkst, du bist wohl was Besseres.“, „Hör endlich auf, dich hervorzutun.“, „So wie du dich benimmst, wirst du nie irgendwo dazugehören.“


Es war Mobbing was sie erfahren haben. Und es kam nicht von Gleichaltrigen. Es kam von Erwachsenen, die eigentlich schützen und fördern sollten.


Diese Erfahrungen wirken nach – tief und lang. Sie beeinflussen die Art, wie Menschen über sich selbst denken, wie sie Beziehungen führen, arbeiten, sich ausdrücken. Viele erkennen erst sehr spät – wenn überhaupt –, dass ihr Ringen um Selbstwert und Zugehörigkeit nicht „ihr Problem“ ist, sondern die Folge struktureller und psychischer Gewalt, die ihnen als Kind angetan wurde.


Es ist Zeit, auch diese Geschichten sichtbar zu machen. Denn nicht die Hochbegabung war das Problem – sondern der Umgang damit.


 
 
 

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