Hochbegabung in der Psychotherapie: Ein blinder Fleck mit teilweise fatalen Folgen
- Dr. Birgit Wegerich-Bauer
- 16. Juli
- 5 Min. Lesezeit

In der psychotherapeutischen Arbeit wird ein zentraler Faktor nach wie vor viel zu häufig übersehen: die Hochbegabung. Dabei hat sie weitreichenden Einfluss auf das emotionale Erleben, die soziale Interaktion und die gesamte Persönlichkeitsstruktur eines Menschen. Dennoch bleibt sie sowohl in der Diagnostik als auch im therapeutischen Setting meist unberücksichtigt.
Die Nichtberücksichtigung ist keineswegs ein beiläufiges Versäumnis – sie kann gravierende Folgen haben. Wenn hochbegabte Patient*innen in ihrer besonderen Denk- und Erlebnisweise vom Therapeuten nicht erkannt werden, führt das nicht selten zu tiefem Missverständnissen, Fehldiagnosen oder unpassenden therapeutischen Maßnahmen. Die eigentlichen Ursachen ihres Leidens bleiben dadurch unberücksichtig, während sich Symptome wie Depression, Angst, oder selbstverletzendes Verhalten oftmals verschärfen. Einige hochbegabte Patient:innen erleben die Therapie sogar als emotional übergriffig oder entwertend – bis hin zu einem Zustand, der einer Retraumatisierung gleichkommt.
Die Folge: Viele Betroffene brechen die Therapie nicht nur enttäuscht ab, sondern in einem Zustand tiefer Frustration, innerer Not oder wachsenden Misstrauens gegenüber professioneller Hilfe. Manche ziehen sich vollständig zurück, andere versuchen sich selbst zu helfen – mit Medikamenten, Diagnosen aus dem Internet oder therapeutischen Methoden, die sie auf eigene Faust erproben. Und einige verlieren auf diesem Weg zunehmend den Halt im Leben.
Gerade deshalb ist es höchste Zeit, Hochbegabung in der Psychotherapie nicht länger auszublenden – sondern sie als das zu behandeln, was sie ist: ein zentraler Schlüssel zum Verstehen und Begleiten von Menschen.
Hochbegabung – mehr als ein hoher IQ
Viele Therapeuten setzen Hochbegabung nach wie vor mit einem ausschließlich hohen Intelligenzquotienten gleich, der sich in entsprechender kognitiver Leistung zeigt (zeigen sollte und muss) – doch das greift zu kurz. Hochbegabte erleben die Welt intensiver, schneller, komplexer. Sie denken in größeren Zusammenhängen, reflektieren tief, stellen ungewöhnliche Fragen – und stoßen damit nicht selten auf Unverständnis seitens der Psychologen und Psychotherapeuten. Sie reflektieren sich und ihr Handeln oft in sozialen, gesamtgesellschaftlichen und ethischen Zusammenhängen. Emotional sind sie häufig besonders sensibel, leidenschaftlich und hochgradig empathisch – Eigenschaften, die nicht immer mit der gängigen Vorstellung von „intelligenten“ Menschen vereinbar sind.
Wenn die Psychotherapie zum Irrweg wird
Wird Hochbegabung in der Psychotherapie nicht als das gesamte Wahrnehmen, Denken und Fühlen betreffende einer Person einbezogen, kann das schwerwiegende Folgen haben:
Fehldiagnosen: Intensive emotionale Reaktionen, ausgeprägtes Grübeln oder soziale Rückzugsphasen werden bei hochbegabten Menschen häufig missverstanden und fälschlich als Anzeichen psychischer Störungen interpretiert – etwa als ADHS, Autismus-Spektrum-Störung, Depression, Angststörung, Zwangsstörung oder sozio-emotionale Entwicklungsstörung. Tatsächlich ähneln viele Symptome diesen Krankheitsbildern, doch die Ursache liegt häufig nicht in einer Störung, sondern in der besonderen Art, wie hochbegabte Menschen die Welt wahrnehmen, verarbeiten und erleben. Wird dieser Unterschied nicht erkannt, entstehen Fehldiagnosen – mit oft weitreichenden Folgen für Selbstbild, Therapieansatz und Lebensweg.
Unpassende Interventionen: Standardisierte Therapiemaßnahmen greifen bei hochbegabten Menschen oft nicht – sie wirken auf sie zu banal, schematisch oder intellektuell unterfordernd. Übungen, die auf Wiederholung, Verlangsamung oder Vereinfachung abzielen, können als wenig sinnvoll oder sogar frustrierend erlebt werden. Es fehlt an gedanklicher Tiefe, emotionaler Resonanz, methodischer Flexibilität und an einem Dialog auf Augenhöhe. Wenn Therapie als oberflächlich oder starr empfunden wird, entsteht schnell das Gefühl, nicht ernst genommen oder „abgeflacht“ zu werden – was die therapeutische Beziehung massiv belasten kann.
Therapieabbrüche: Viele hochbegabte Patient*innen brechen ihre Therapie nicht nur enttäuscht, sondern auch frustriert, verletzt oder innerlich empört ab, wenn sie das Gefühl haben, nicht wirklich verstanden, nicht ernst genommen oder in ihrer Tiefe nicht gesehen zu werden. Die Reaktion reicht von stiller Resignation bis hin zu innerer Auflehnung – das Vertrauen in therapeutische Hilfe wird dadurch oft nachhaltig erschüttert.
Selbstmedikation und Selbsttherapie: Aus Mangel an passenden Angeboten und der Fähigkeit sich schnell in diverse Sachbereiche einzuarbeiten beginnen manche Betroffene aus Verzweiflung selbst mit Medikamenten, alternativen Methoden oder anderen therapeutischen Ansätzen zu experimentieren – oft mit riskanten Folgen.
Verschlimmerung der Symptome: Bleibt die Hochbegabung als elementarer Bestandteil der Persönlichkiet in der Therapie unberücksichtig, können sich depressive Episoden intensivieren. Selbstverletzendes Verhalten, Magersucht oder soziale Isolation nehmen zu – ihre wirkliche Not wird in ihrer Komplexität übersehen.
Zunehmende Verzweiflung: Je länger hochbegabte Patient*innen das Gefühl haben, in der Therapie nicht verstanden oder falsch behandelt zu werden, desto tiefer kann sich ein Zustand der inneren Resignation, Isolation und Erschöpfung einstellen. Aus der anfänglichen Enttäuschung wird oft ein Gefühl existenzieller Ausweglosigkeit – begleitet von dem Eindruck, dass es keinen Ort gibt, an dem ihr Erleben wirklich gesehen wird. In dieser Situation steigt nicht nur das Risiko für eine Chronifizierung von Symptomen wie Depression, Selbstverletzung oder Essstörungen, sondern auch für Suizidgedanken oder Suizidversuche. Gerade weil viele Betroffene nach außen hin kontrolliert oder funktional wirken, bleibt ihre tiefe Not oft unbemerkt – mit potenziell lebensbedrohlichen Folgen.
Eine mögliche Hochbegabung erkennen – auch ohne Test
Nicht jede hochbegabte Person weiß, wenn sie in die Therapie kommt, um ihre Begabung – und nicht jede möchte sich einem Intelligenztest unterziehen. Dennoch gibt es Hinweise, die Therapeut*innen sensibel wahrnehmen sollten: ein ausgeprägtes Reflexionsvermögen, eine hohe Sensibilität, intensive Interessen, chronisches „sich fremd fühlen“, Langeweile in konventionellen Kontexten oder ein innerer Drang nach Sinn und Tiefe.
Ein bewusstes Hinschauen kann Türen öffnen – nicht nur zur richtigen Diagnose, sondern auch zu einer heilsamen, passgenauen therapeutischen Beziehung. Gerade auch, wenn keine Therapien zu greifen scheinen!
Augenhöhe, ein ebenfalls unterschätzter Faktor in der Therapie
Für hochbegabte Menschen ist authentische Augenhöhe kein „Bonus“, sondern eine Grundvoraussetzung für eine gelingende therapeutische Beziehung. Sie reagieren sensibel auf subtile Hierarchien, belehrende Haltungen oder standardisierte Gesprächsführung. Wenn sie das Gefühl haben, nicht als gleichwertiges, reflektiertes Gegenüber wahrgenommen zu werden, entsteht schnell innerer Widerstand – oft noch bevor Vertrauen überhaupt aufgebaut werden kann.
Was hochbegabte Patient*innen brauchen, ist eine therapeutische Haltung, die geprägt ist von Aufrichtigkeit, echtem Interesse und intellektueller wie emotionaler Offenheit. Sie möchten ernst genommen werden – nicht trotz, sondern mit ihrer Komplexität. Dort, wo Augenhöhe gelebt wird, entsteht Raum für tiefe Verbindung, gemeinsames Nachdenken und individuelle Lösungswege. Und genau das ist oft der Schlüssel zu einer nachhaltigen, wirklich wirksamen Therapie.
Was bedeutet das für die Therapie:
Für die psychotherapeutische Arbeit bedeutet das: Hochbegabung muss als möglicher Einflussfaktor von Beginn an mitgedacht werden – nicht als Spezialthema für Einzelfälle, sondern als realer Bestandteil menschlicher Vielfalt. Zu oft bleibt diese Dimension in Anamnese, Diagnostik und Behandlung außen vor, obwohl sie das Denken, Fühlen und Handeln einer Person tiefgreifend prägt. Wird Hochbegabung übersehen, kann das dazu führen, dass zentrale Dynamiken missverstanden, Symptome fehlgedeutet und Interventionen als unpassend erlebt werden.
Eine therapeutische Haltung, die offen für Hochbegabung ist, bedeutet nicht, jede Patientin und jeden Patienten sofort als hochbegabt einzuschätzen. Es geht vielmehr darum, sensibel für Hinweise zu sein – etwa eine ungewöhnliche gedankliche Tiefe, ein ständiges Infragestellen, starke emotionale Resonanz, das Gefühl von Fremdheit oder intellektuelle Unterforderung. Schon die ernsthafte Frage, ob Hochbegabung eine Rolle spielen könnte, kann für Betroffene ein Wendepunkt sein. Sie erleben sich dadurch häufig zum ersten Mal gesehen – nicht als „schwierig“ oder „überempfindlich“, sondern als jemand, dessen Besonderheit bisher einfach nicht erkannt wurde.
Daraus folgt auch ein methodischer Anspruch: Hochbegabte benötigen oft mehr Tiefe, mehr gedankliche Komplexität, mehr Raum für Reflexion – und weniger Standardisierung. Vorgefertigte Übungen, zu einfache Modelle oder rein symptomorientierte Arbeit wirken schnell ermüdend und entmutigend. Was stattdessen hilft, ist eine individuelle, dynamische Therapiegestaltung mit hoher intellektueller und emotionaler Präsenz – und einer Beziehung auf Augenhöhe.
Diese Überlegungen gelten dabei nicht nur für hochbegabte Erwachsene, sondern ganz besonders auch für hochbegabte Kinder und Jugendliche. Gerade in jungen Jahren, in denen Identität, Selbstbild und soziale Integration noch in Entwicklung sind, ist eine feine Wahrnehmung für hochbegabungsspezifische Ausdrucksformen essenziell. Missverständnisse, Fehldiagnosen oder unpassende Interventionen können hier besonders tiefgreifende und langfristige Folgen haben. Eine meist altersuntypische, offene und authentisch-respektvolle therapeutische Begleitung, die die Möglichkeit von Hochbegabung aktiv mitdenkt, kann für junge Menschen entscheidend dazu beitragen, sich selbst zu verstehen – und nicht an sich zu zweifeln bzw. mit sich und der Welt zu verzweifeln.
Denn letztlich gilt für alle Altersgruppen: Eine Therapie, die Hochbegabung ignoriert, läuft Gefahr, das Wesentliche zu verfehlen. Eine Therapie, die sie anerkennt, kann für hochbegabte Menschen – ob jung oder erwachsen – lebensverändernd sein.
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