„Ihr Kind ist zwar sehr schlau, aber es fehlt ihm an sozialer Reife.“
„Er/Sie muss erst lernen, mit anderen klarzukommen, bevor wir über eine Förderung nachdenken können.“
„So intelligent wie er/sie ist, sollte er/sie eigentlich besser wissen, wie man sich benimmt.“
„Ihr Kind ist ein Einzelgänger und isoliert sich ständig, das ist nicht gesund.“
„Er/Sie kann die einfachsten sozialen Regeln nicht einhalten. Das hat nichts mit Hochbegabung zu tun!“
„Ihr Kind wirkt oft arrogant und denkt, es wüsste alles besser.“
„Er/Sie hat Probleme, Freundschaften zu schließen, und das liegt sicher an einer sozialen Unsicherheit.“
„Ihr Kind versteht keinen Spaß und reagiert überempfindlich auf harmlose Neckereien.“
„Er/Sie hält sich immer aus Gruppenaktivitäten heraus und wirkt sozial ungeschickt.“
„Bei seinem/ihrem Verhalten müssen wir erst die sozialen Defizite in den Griff bekommen, bevor wir über die Förderung der Intelligenz sprechen können.“
„Ihr Kind ist emotional nicht auf dem Stand seiner Altersgenossen und wirkt oft unreif.“
Die Liste ist leider sehr lang, wenn es um Aussagen über die sozialen und emotinalen (Un)Fähigkeiten hochbegabte Kinder und Jugendliche geht. Besonders im schulischen Umfeld werden ihre Verhaltensweisen schnell als problematisch oder unpassend abgetan. Anstatt ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse zu erkennen, werden sie als „schwierig“ abgestempelt. Viele Lehrkräfte, Eltern und Mitschüler nehmen fälschlicherweise an, dass diese Kinder emotionale Defizite haben oder unfähig sind, sich in Gruppen einzufügen.
Die oben angeführten Aussagen verkennen häufig die tatsächlichen Fähigkeiten hochbegabter Kinder und führen dazu, dass deren soziale Intelligenz und Sensibilität übersehen oder falsch interpretiert werden bzw. in Abrede gestellt werden. Eltern stehen dann vor der Herausforderung, nicht nur die besonderen Begabungen ihres Kindes zu erklären und um entsprechende Förderung zu bitten, sondern auch das Verhalten ihres Kindes in Schutz zu nehmen und zu erklären.
Sozio-empathische Störung – Was für ein fataler Irrtum!
Dem Vorurteil der „sozio-empathischen Störung“ begegnet man häufig im schulischen Umfeld. Lehrkräfte greifen oft auf diese pauschale Beschreibung zurück, um das Verhalten von hochbegabten Schülern und Schülerinnen zu erklären. „Ja, ja – aber er oder sie soll sich erst einmal besser in die Klassengemeinschaft einfügen! Die sozialen Auffälligkeiten sind wirklich problematisch“, hört man dann. Mit diesem Argument wird die Förderung der kognitiven Fähigkeiten nonchalant in den Hintergrund geschoben, als wäre die intellektuelle Begabung zweitrangig. Doch in Wirklichkeit steckt hinter dem vermeintlichen Problem etwas ganz anderes: Viele hochbegabte Kinder und Jugendliche verfügen nicht nur über eine hohe kognitive Leistungsfähigkeit, sondern auch über eine besonders ausgeprägte soziale Intelligenz – eine Fähigkeit, die ihnen im schulischen Kontext oft zum Verhängnis wird.
Die Realität hinter dem Missverständnis
Wenn Lehrkräfte oder Erzieher das Verhalten hochbegabter Schüler und Schülerinnen als „sozio-empathische Auffälligkeit“ interpretieren, wird den Kindern pauschal unterstellt, nicht in der Lage zu sein, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, soziale Normen zu verstehen oder sich in Gemeinschaften zu integrieren. Doch in den meisten Fällen ist genau das Gegenteil der Fall: Diese Kinder besitzen eine extrem hohe emotionale Sensibilität, ein äußerst tiefes Einfühlungsvermögen und einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Sie nehmen ihre Umgebung sehr differenziert wahr und reagieren nicht selten auf Emotionen und Stimmungen, die von anderen gar nicht wahrgenommen werden. Ihre Fähigkeit, die unausgesprochenen Botschaften und Emotionen ihrer Mitmenschen zu erkennen, ist oft so hoch entwickelt, dass sie mit den sozialen Erwartungen und dem Verhalten ihres Umfeldes in Konflikt geraten.
Hochbegabte und soziale Intelligenz: Mehr Fluch als Segen?
Stellen wir uns ein hochbegabtes Kind vor, das die emotionalen Schwingungen und kleinsten Verhaltensänderungen in seiner Umgebung intensiv wahrnimmt: Es bemerkt, wenn ein Mitschüler sich ausgeschlossen fühlt, erkennt den leisen Anflug von Verärgerung, wenn jemand übergangen wird, und registriert sofort, wenn eine Lehrkraft seine Worte nicht wirklich ernst meint. Diese Kinder spüren Spannungen, die unter der Oberfläche brodeln, und fühlen sich häufig verpflichtet, darauf zu reagieren. Sie handeln aus Empathie und einem tiefen Gerechtigkeitsanspruch.
Statt sie zu bestätigen, werden sie von ihrem Umfeld häufig missverstanden. Sie bringen etwas zur Sprache, das andere ignorieren oder nicht wahrnehmen. Ihre Aussagen wirken für Außenstehende aufmüpfig oder unangebracht, obwohl das Kind nur versucht, das äußere Verhalten des Umfeldes mit den inneren gefühlten Emotionen in Einklang zu bringen. Es wird oftmals für eine Reaktion kritisiert, die aus seinem tiefen Gerechtigkeitsanspruch und einer ehrlichen Einschätzung der Situation heraus entsteht.
Zum Beispiel: In einer Situation, in der die Klasse laut und unruhig ist und die Lehrkraft gereizt wirkt, könnte ein hochbegabtes Kind bemerken, dass die Lehrkraft selbst erschöpft ist, obwohl sie dies nicht äußert. Es könnte dann versuchen, die Aufmerksamkeit der Gruppe darauf zu lenken. Doch anstatt als hilfsbereit wahrgenommen zu werden, wird es zurechtgewiesen nicht so vorlaut zu sein.
Solche Kinder sind oft auch diejenigen, die sich von Gruppenaktivitäten zurückziehen, wenn sie merken, dass die Dynamik toxisch ist. Sie empfinden die negativen Schwingungen der Gruppe viel stärker als andere und schützen sich dadurch unbewusst. Statt jedoch zu erkennen, dass hier eine besondere Form des Selbstschutzes vorliegt, wird das Kind als „Einzelgänger“ abgestempelt, dem es angeblich an sozialen Fähigkeiten fehlt. Ihr Verhalten wird als Defizit wahrgenommen, obwohl es auf eine sehr differenzierte Wahrnehmung und ein hohes Maß an sozialer Intelligenz zurückzuführen ist.
Dies alles führt zu der paradoxen Situation, dass Kinder, die in Wahrheit emotional feinfühlig und sozial hyperkompetent sind für ihre tiefe Empathie bestraft und als „emotional unreif“ oder „sozial unangepasst“ bewertet werden. Anstatt ihre Fähigkeit, komplexe soziale Zusammenhänge zu erkennen, zu fördern, versucht das Umfeld, sie in starre Verhaltensmuster zu pressen mit der Folge, dass diese Kinder beginnen, an sich selbst zu zweifeln und die eigenen Wahrnehmungen in Frage zu stellen. Sie lernen, sich anzupassen und die sozialen Instinkte zu unterdrücken, um „normal“ zu wirken – oft mit negativen Konsequenzen für ihre Selbstwertgefühle und die spätere soziale Entwicklung.
Wenn Ehrlichkeit als Arroganz wahrgenommen wird
Ein weiteres häufiges Missverständnis entsteht durch den Hang vieler hochbegabter Kinder zur Ehrlichkeit und ihr Bedürfnis nach Transparenz und Gerechtigkeit. Sie erkennen Widersprüche im Verhalten ihrer Mitmenschen und äußern ihre Beobachtungen oft ohne Umwege. Dabei geht es ihnen nicht darum, jemanden bloßzustellen, sondern sie fühlen sich durch Unstimmigkeiten regelrecht herausgefordert. Sie möchten Klarheit schaffen und Harmonie herstellen. Diese Direktheit wird jedoch häufig als Arroganz oder Unhöflichkeit ausgelegt. Tatsächlich handelt es sich hierbei aber um einen Ausdruck ihrer hohen sozialen Intelligenz und ihres starken Gerechtigkeitssinns.
Wenn die Wahrnehmungsschärfe zur Schwäche erklärt wird
Gerade diese ausgeprägte Sensibilität hochbegabter Kinder wird oft als Problem angesehen, wobei das Problem jedoch nicht auf ihre Sensibilität zurückgeführt. Ihr Vermögen, Stimmungen und unausgesprochene Konflikte zu erkennen, lässt sie auf Situationen reagieren, die andere noch nicht einmal bemerken. Diese Reaktionsfähigkeit wird jedoch selten als Stärke betrachtet, sondern fälschlicherweise als Indiz für eine „sozio-empathische Störung“. Weil ihre Reaktionen nicht dem „erwarteten“ Verhalten entsprechen, werden sie als unangepasst oder als „schwierig“ abgestempelt. Diese Kinder spüren die Unstimmigkeiten um sich herum, aber statt Anerkennung erhalten sie Ablehnung. Ihr Bedürfnis, diese Ungereimtheiten aufzuklären, wird zu einer vermeintlichen Schwäche erklärt, obwohl es eigentlich auf ihre tief empfundene soziale Intelligenz zurückzuführen ist.
Das Totschlagargument „soziale Inkompetenz“
Dieser Vorwurf der „sozialen Inkompetenz“ wird zu einem bequemen Totschlagargument für Lehrkräfte, das jede weitere Diskussion über Fördermaßnahmen beendet. Anstatt den hochbegabten Kindern die Chance zu geben, ihre sozialen und kognitiven Fähigkeiten weiterzuentwickeln, werden sie auf ihre vermeintlichen Defizite reduziert. Eltern, die eine gezielte Förderung für ihre Kinder wünschen, hören dann oft Sätze wie: „Ihr Kind muss erst einmal lernen, sich sozial zu integrieren … “ Der Vorwurf wird somit zu einer Barriere, die hochbegabte Kinder daran hindert, ihr volles Potenzial zu entfalten.
Soziale Intelligenz als Stolperstein: Eine Herausforderung für Lehrkräfte
Das eigentliche Problem liegt nicht im Verhalten der hochbegabten Kinder, sondern in der Unfähigkeit des Umfelds, ihre Feinfühligkeit und soziale Intelligenz richtig einzuordnen. Diese Kinder erkennen soziale Dynamiken nicht nur, sie hinterfragen sie und bieten sogar alternative Handlungsweisen an. Diese Klarheit im Denken und Fühlen führt oft zu Reibungen, wenn sie auf weniger feinfühlige Klassenkameraden oder überforderte Lehrkräfte stoßen. Ihr Bedürfnis nach Authentizität und Gerechtigkeit wird als unangemessene Herausforderung interpretiert. Doch statt sie als soziale Problemkinder abzustempeln, sollten Lehrkräfte und Erzieher lernen, das Potenzial dieser Kinder zu erkennen und ihre besonderen Fähigkeiten wertzuschätzen. Denn ansonsten verzweifeln diese Kinder an sich selbst und ein leidervoller Weg voller Irritationen und Selbsttweifel beginnt.
Eine Umgebung, die ihnen Raum für ihre sozialen und intellektuellen Bedürfnisse bietet, können hochbegabte Kinder nicht nur ihre eigenen Stärken entwickeln, sondern auch das Miteinander der Gruppe positiv beeinflussen.
... und welche Aussprüche habt Ihr in diesem Zusammenhang hören müssen?
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