Im Alltag werden die Begriffe „Lernen“ und „Üben“ von Eltern und Lehrkräften häufig so verwendet, als wären sie austauschbar. Doch diese ungenaue Wortwahl kann besonders bei hochbegabten Kindern zu Irritationen führen, da sie die Bedeutung von Worten sehr genau nehmen. Für sie gibt es einen klaren Unterschied: Lernen bedeutet, etwas zu verstehen, während Üben – ein Begriff, der in ihrem Wortschatz oft nur selten vorkommt – dazu dient, das Verstandene durch Wiederholung zu festigen.
Lernen ist der Prozess, bei dem ein Kind neue Inhalte aufnimmt und begreift. Es ist der Moment, in dem Konzepte klar werden und sich die Puzzleteile im Kopf zusammenfügen. Das Verstehen ist der zentrale Aspekt des Lernens – ein inspirierender Augenblick, der bei hochbegabten Kindern besonders schnell und intuitiv erfolgt. Doch auch wenn das Verstehen der erste und entscheidende Schritt ist, reicht es meist allein nicht aus. Damit das Wissen später sicher und automatisiert abgerufen werden kann, sollte es verinnerlicht werden – und das geschieht in der Regel durch Üben.
Im schulischen Alltag entstehen so oft Missverständnisse, wenn Lehrkräfte oder Eltern „Lernen“ sagen, aber eigentlich „Üben“ meinen. Ein Kind, das in der Schule eine Aufgabe verstanden und richtig gelöst hat, hört zu Hause häufig die unspezifische Aufforderung: „Du musst das noch lernen gehen.“ Oder im schulischen Kontext: „Lernt bitte ... !“ Doch was tatsächlich gemeint ist: Es soll das Gelernte üben. Hochbegabte Kinder, die den Stoff meist schnell durchschauen, empfinden diese ungenaue Ausdrucksweise als verwirrend. Sie haben das Konzept verstanden und fragen sich, warum sie es noch einmal lernen sollten.
Im Prinzip reagieren diese Kinder ausschließlich auf die Aufforderung „Lerne …!“. Ihre Antworten wie „Ich kann das schon!“ oder „Wieso?“ spiegeln wider, dass sie genau das bereits getan haben – sie haben gelernt und, genauer gesagt, das Prinzip verstanden. Die in der Aufforderung implizierte Bitte zu üben bleibt oft ungehört, da sie in ihrer Wahrnehmung nicht klar als solche formuliert wird. Für hochbegabte Kinder gilt das Verstehen als vollständige Erfüllung der Aufgabe, während das nochmalige Lernen als unnötige Wiederholung erscheint. Hier ist es entscheidend, klar zu kommunizieren: Lernen ist das Verstehen, Üben ist das verfestigende Wiederholen.
Hochbegabte Kinder verfügen über ein außergewöhnliches adaptives Lernvermögen. Sie erfassen neue Inhalte blitzschnell und benötigen kaum Wiederholungen, um Fakten, Abläufe oder Lösungswege abzuspeichern. Ihr schnelles Verstehen verkürzt den Lernprozess erheblich – oft reicht ein einziger Durchgang, um das Wissen zu verinnerlichen. Während andere Kinder durch mehrfaches Üben das einmal Verstandene festigen, können hochbegabte Kinder diesen Schritt häufig überspringen und das Verstandene direkt anwenden. Diese schnelle Auffassungsgabe führt dazu, dass hochbegabte Kinder nicht die gleiche Menge an Übung benötigen wie ihre Mitschüler:innen. Für sie ist das Üben oft weniger wichtig, da sie nach dem ersten Verstehen ein tiefes Verständnis für das dahinterliegende Prinzip entwickeln.
Der Anspruch lautet daher: Sage „Lernen“, wenn du lernen meinst, und sage „Üben“, wenn du üben meinst.
Eltern und Lehrkräfte sollten diesen Unterschied verstehen, um Missverständnissen zu vorzubeuten und den Wert beider Prozesse klarer zu vermitteln. Auch wenn hochbegabte Kinder oft schneller verstehen und weniger üben müssen, profitieren sie davon, das Verstandene durch gezielte und für sie passende Wiederholungen in echte Routine zu überführen. Ein klarer Gebrauch der Begriffe hilft, die Lernprozesse transparent und verständlich zu machen – sowohl für Kinder als auch für Erwachsene.
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