Persönlichkeitstests sind weit verbreitet, sowohl in der Persönlichkeitsforschung als auch in der Praxis – sei es bei der Berufsorientierung, im Coaching oder in der Therapie. Doch während diese Tests für viele Menschen hilfreiche Einblicke bieten, stoßen hochbegabte und hochsensible Menschen oft an ihre Grenzen, wenn sie versuchen, sich in die vorgegebenen Kategorien einzuordnen. Warum ist das so? Und was macht diese Tests gerade für diese Personengruppen so problematisch?
Die Grenzen polarer Persönlichkeitsmodelle
Die Herausforderung der Polaritäten
Die meisten Persönlichkeitstests arbeiten mit Gegensätzen. Merkmale wie Introversion vs. Extraversion oder Gewissenhaftigkeit vs. Flexibilität werden als Pole dargestellt, zwischen denen die Persönlichkeit verortet werden soll. Diese scheinbare Gegensätzlichkeit mag für viele Menschen stimmig sein, doch sie wird den vielschichtigen Eigenschaften hochbegabter und hochsensibler Menschen oft nicht gerecht.
Ein hochsensibler Mensch etwa kann ein starkes Bedürfnis nach Rückzug haben, um sich von intensiven Sinneseindrücken zu erholen, aber auch ausgesprochen kontaktfreudig sein oder das Rampenlicht suchen. Hochbegabte wiederum können flexibel und kreativ denken und gleichzeitig hochstrukturiert und diszipliniert arbeiten. Die starre Einteilung in Gegensätze wird dieser Gleichzeitigkeit von Eigenschaften nicht gerecht.
Mehrdimensionalität statt Schwarz-Weiß-Denken
Ein grundlegendes Problem dieser Tests liegt in ihrem Ansatz, komplexe Persönlichkeitsmerkmale auf lineare Skalen zu reduzieren. Was, wenn Persönlichkeit nicht entlang einer Linie verläuft, sondern in einem vielschichtigen Netzwerk von Eigenschaften existiert?
Für hochbegabte und hochsensible Menschen, die oft widersprüchliche Charakterzüge in sich vereinen, führt dies zu einer unbefriedigenden Selbsteinschätzung. Anstatt die eigene Persönlichkeit klar in Kategorien wie „introvertiert“ oder „extrovertiert“ einordnen zu können, empfinden sie häufig eine Mischung aus beidem – abhängig von Kontext und Lebensphase. Diese Dynamik bleibt in vielen Persönlichkeitstests unsichtbar.
Der Druck zur Entscheidung
Persönlichkeitstests fordern klare Entscheidungen. Auf die Frage „Trifft diese Aussage auf Sie zu?“ müssen hochbegabte und hochsensible Menschen oft länger nachdenken, weil die Antwort nicht so eindeutig ist. „Kommt darauf an“, denken sie, weil die Situation oder der innere Zustand entscheidend ist. Diese Unsicherheit spiegelt weniger eine mangelnde Selbstkenntnis wider, sondern vielmehr die Komplexität ihrer Persönlichkeit.
Der Druck, sich auf einer Skala zu verorten, kann für diese Menschen unpassend sein. Denn ihre Persönlichkeit lebt von der Fähigkeit, verschiedene Facetten auszubalancieren, anstatt sich auf eine Seite festzulegen.
Die Einschränkungen herkömmlicher Persönlichkeitstests werfen die Frage auf, wie ein neuer Ansatz aussehen könnte, der der Komplexität hochbegabter und hochsensibler Menschen besser gerecht würde. Modelle, die Mehrdimensionalität zulassen und nicht von starren Gegensätzen ausgehen, könnten hier ein wertvoller Schritt sein. Solche Tests müssten nicht nur Ambivalenzen akzeptieren, sondern aktiv einbeziehen, um ein vollständigeres Bild zu zeichnen.
Idee/Tipp: Ein anderer Umgang mit Persönlichkeitstests
Mach einmal den 16-Persönlichkeitentest und achte dabei auf deine innere Stimme, die dir über die Schulter schaut und deine Antworten kommentiert. Diese innere Stimme ist oft sehr aufschlussreich, denn neben deinem "Ich" sitzen dort auch deine Eltern, Großeltern, Lehrer, Freunde, gesellschaftliche Vorurteile und deine Möchte-gern-Eigenschaften. Du wirst merken, dass du genau weißt, welche Antworten du ankreuzen musst, um jene Persönlichkeit zu verkörpern, die du gerne sein möchtest – oder auch jene, die du unbedingt vermeiden willst.
Hast du den Test gemacht? Lies dir deinen Persönlichkeitstypen in Ruhe durch. Danach lies ihn noch ein zweites Mal und markiere, was dir gefällt und gut tut. Alles, was nicht zu dir passt oder du nicht verkörpern möchtest, streiche heraus.
Wenn du Lust hast, gestalte deinen eigenen, individuellen Persönlichkeitstyp: Lies dazu die Beschreibungen anderer Typen und übernimm das, was du gerne in dir verkörpert sehen möchtest - auch das ist in dir veranlagt!
Im letzten Schritt kannst du eine Skala über die verschiedenen Aussagen legen und definieren, wo du dich gerade siehst. Falls du dich in einem Bereich verbessern möchtest, stelle dir folgende Frage aus dem systemisch-lösungsorientierten Coaching: „Was muss geschehen, damit ich einen Punkt weiterkomme?“ Und weiter: „Woran merke ich – oder mein Umfeld –, dass ich diesen Punkt erreicht habe?"
So wird aus der Frage „Wer bist du?“ eine viel inspirierendere Aufforderung: „Werde, der du sein möchtest!“
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