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Fantasie - die sensible, poetische Schwester der Hochkreativität

Eine kleine Geschichte



Es waren einmal zwei Schwestern. Die eine hieß Hochkreativität, die andere Fantasie. Sie lebten zusammen in einem ganz herrlichen Schloss am See der Ideen. Die eine war wild und ungestüm und trug gerne bunte, schrille Kleider. Jeder wusste, wenn sie morgens aufgewacht war, denn sie hüpfte voller Elan aus dem Bett, pfiff laut nach ihrem Hund und durchwühlte ihren vollen Kleiderschrank nach dem perfekten Outfit für den Tag. Die andere war leise und vorsichtig. Sie kleidete sich gerne in hellen, pastellfarben Tönen und schmückte ihr Haar mit Blumen. Morgens blieb sie gerne noch ein bisschen länger im Bett liegen und träumte sich in den Tag. Während ihre Schwester schon am schweren Frühstückstisch in der großen Schlossküche sich Marmeladenbrote in den Mund stopfte und Kakao aus einem großen Becher trank, suchte sie noch nach ihren plüschigen, hellgrünen Pantoffeln. Das Frühstück musste warten, denn erst einmal musste sie bei dem kranken Kätzchen vorbei schauen und sich um die kleinen Vögel kümmern, die letzte Woche vom Vater mit nach Hause gebracht worden waren. Sie waren aus dem Nest gefallen. Anschließend musste sie noch ihren Traum der vergangen Nacht ins Tagebuch schreiben. Eine Tasse heißen Tees würde zum Frühstück reichen bevor sie sich zum See der Ideen auf den Weg machte.


Schon von Weitem konnte sie vom See der Ideen lautes Lachen und Schreien zu hören. Die Fantasie wusste, dass ihre Schwester schon mit den Nachbarskindern auf den See hinausgerudert war, denn in der Regel konnte es sie nicht abwarten, bis sie, die Fantasie, am See der Ideen angekommen war. Aber das war der Fantasie egal. Sie musste auf dem Weg die frisch aufgeblühten Blumen begrüßen, die in der Nacht gewobenen Spinnennetze bestaunen und die frischen Maulwurfshügel bewundern. Sie wusste, dass ihre Schwester das alles auch gesehen hatte, denn sie hatte den gleichen Weg zum See der Ideen gewählt, aber sie ließ sich Zeit für die Betrachtungen, denn schließlich wollte sie am Abend davon in ihrem Tagebuch Zeichnungen anfertigen und ausführlich beschreiben. Manchmal verstand die Fantasie einfach nicht, warum ihre Schwester darauf gar keinen Wert legte, denn sie konnte es sich gar nicht vorstellen, an diesen herrlichen Blumen einfach vorbeizustürmen ohne auch nur eine einzige davon zu pflücken.


Unten, am Ufer angekommen, setzte sich die Fantasie auf den alten Bootssteg und ließ ihre Füße ins Wasser baumeln. Sie genoss die wärmenden Sonnenstrahlen der Morgensonne und hörte dem Murmeln des Baches zu, der ganz in der Nähe in den See floss. Ihre Schwester war schon auf der Mitte des Sees der Ideen gerudert und tauchte nach Muscheln, die nur an den tiefen Stellen des Sees zu finden waren. Sie hingegen fand das tiefe Wasser nicht sonderlich vertrauenserregend und hielt sich lieber am flachen Ufer des Sees auf. Auch hier konnte man herrliche Entdeckungen machen. Die kleinen Fischchen, die sich zu ihr gesellten und um ihre Füße in dem hellen, klaren Wasser schwammen, erzählten von den Neuigkeiten des Morgens und die Enteneltern, die mit ihren kleinen Kücken am Ufer das flache Wasser nach Futter absuchten, vertrauten ihr, denn die Fantasie konnte ganz leise und bewegungslos auf dem Steg sitzen bleiben. Was war das doch für ein herrlicher Morgen! Als beide Schwestern am Mittag gemeinsam zum Schloss zurückkehrten waren sie glücklich und zufrieden. Sie hatten einen Bärenhunger und freuten sich am Mittagstisch ihren Eltern von ihren Entdeckungen und Eindrücken zu berichten, die sie vom See der Ideen mitgebracht hatten - die eine laut und mit gewaltigen, derben Kraftausdrücken, die andere leise und mit vielen feinen, beschreibenden Worten.


Die Eltern achteten stets darauf, dass beide Schwestern die gleiche Aufmerksamkeit und Wertschätzung bekamen.



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